Mechanismen der Abwehr
Der indische Philosoph J. Krishnamurti stellte fest, dass es die höchste Form menschlicher Intelligenz ist, zu beobachten ohne zu bewerten. Als ich diese Aussage las, schoss mir zunächst der Gedanke „Was für ein Blödsinn!“ durch den Kopf, bevor mir klar wurde, dass ich damit gerade eine Bewertung abgebe. Im zweiten Gedankenlauf musste ich ihm Recht geben. Für die meisten Menschen ist es schwierig, Menschen und deren Verhalten in einer Weise zu beobachten, die frei ist von Verurteilung, Kritik oder anderen Formen der Analyse. Andere abzuwerten, um sich selbst aufzuwerten, scheint ein beliebtes Verhaltensmuster zu sein.
Dauertendenz Bewertung
Arbeiten könnte so schön sein, wenn der unfähige Chef endlich abgesägt würde, die nervige Kollegin mit der schrillen Stimme nicht wäre, der „Beherrscht das gar nicht“-Kollege ginge oder die „Ist doch völlig unfähig“–Kollegin verschwände.
So oder ähnlich denken viele Menschen an ihrem Arbeitsplatz. Unausgesprochen aber dennoch präsent schwingt der Gedanke mit: „Ich kann es besser“ oder „Mir wäre das nicht passiert“ oder „Wenn man nur mich machen ließe“.
Offenbar unterliegen alle Menschen einer Dauertendenz zur Bewertung, die durchweg automatisiert verläuft. Sie sind Teil der eigenen Programmierung. Dieser Automatismus ist so selbstverständlich, dass man ihn kaum in Frage stellt. Blitzartig entscheidet man, ob ein neuer Reiz, sei es ein Kollege, eine Situation oder ein Problem eher eine Gefahr oder eher einen Gewinn für die eigene Person darstellt. Ist das Urteil gefällt, tut man sich mit der Revision schwer. Ein Mensch, einmal in eine Schublade gesteckt, kommt dort schwer wieder raus.
Aufwertung braucht Abwertung
Nicht selten wertet man andere ab, um sich selbst zu beweisen, dass da jemand anderes noch schlechter, noch fauler oder noch weniger liebenswert ist als man selbst. Man sucht oft nach den Schwächen von Menschen nur, um sich selbst aufzuwerten.
Oder man tut es, um ein Gefühl von Gemeinsamkeit mit anderen herzustellen. Denn nichts verbindet scheinbar mehr, als zusammen über jemanden herzuziehen, der gerade nicht im Raum ist und sich nicht wehren kann. Dabei vergisst man aber, dass man sich selbst jedes Mal abwertet, wenn man schlecht über jemanden redet oder denkt. Denn irgendwo tief in einem selbst weiß man, dass man selbst nicht perfekt ist und seine Schwächen hat. Oft sind es sogar die gleichen Schwächen, die man an anderen kritisiert oder über die man sich bei anderen lustig macht. Insofern tut man sich selbst nichts Gutes und nährt eher ein Minderwertigkeitsgefühl in der eigenen Persönlichkeit.
Raus aus der Abwertungsfalle
Das Gegenteil von Abwertung oder auch Verachtung ist die Wertschätzungskompetenz. Die meisten zwischenmenschlichen Probleme, aber auch viele Probleme im Umgang mit der eigenen Person, dürften sich durch ein ausreichendes Maß an Wertschätzung von selbst erledigen. Wertschätzungskompetenz stellt sich nicht allein durch das Lesen eines Textes oder eines Seminarbesuchs ein. Es ist auch keine Technik, sondern eine Haltung, die gelebt und erfahren werden will. Nur so kann sie zu einer Gewohnheit und damit zu einem Teil eines unbewusst arbeitenden Autopiloten werden, der sich gegen die Bewertung stemmt. Um den eigenen Bewertungstendenzen allmählich auf die Schliche zu kommen bieten sich kleine Hilfsmittel wie das „Abwertungsschwein“ oder der „Symptomzähler“ von Dr. Herbert Mück an.
In das Abwertungsschwein werden jedes Mal zwei Euro gesteckt, wenn man sich bei einer Abwertung ertappt. Auch wenn andere einen dabei erwischen, wie man wieder einmal abwertet, werden die zwei Euro fällig. Beim Symptomzähler wird jedes Mal auf ein Zählgerät gedrückt, sobald man anfängt in Gedanken oder verbal zu bewerten. Das Zählen hilft mehr Kontrolle über das Symptom Abwertung zu gewinnen, während das Symptom gleichzeitig an Macht verliert.
Wozu das gut sein soll? Es führt einem mit einfachen Mitteln erschreckend schnell vor Augen, wie fest einen das Thema Bewertung im Griff hat. Und man wird schnell merken, dass es einen nicht entlastet oder von Druck befreit, sondern eher belastet und anspannt. Je weniger man andere Menschen bewertet und verurteilt, desto besser geht es einem selbst.